Du stehst nicht gern vor der Kamera, weil du findest, dass du nicht fotogen bist? Oder nicht schön genug? Vielen Menschen geht es so. Dabei gibt es gar keinen Grund, so zu denken.
«Ich bin nicht fotogen» ist wohl der häufigste Satz, den ich in Shootings (mehrheitlich von Frauen) zu hören bekomme. Viele Menschen finden sich nicht schön, und fotografiert zu werden, ist ihnen sehr unangenehm. Gleichzeitig leben wir in einer Gesellschaft, die hauptsächlich visuell geprägt ist. Eine wichtige Rolle spielen dabei die sozialen Medien. Sie bestimmen, was wir schön finden sollen. Dabei entsprechen die zumeist mit FaceApp bearbeiteten Bilder auf den Plattformen kaum der Realität.
Aber was ist denn eigentlich Schönheit? Woher stammt unsere Faszination für sie? Wieso haben wir Angst davor, nicht schön zu sein oder unsere Schönheit zu verlieren?
Oft vergleichen wir uns mit Idealen oder Vorbildern, die – KI sei Dank – im realen Leben gar nicht existieren. Wir sind ständig auf der Suche nach Schönheit, nach einer formvollendeten Komposition, die uns staunen und bewundern lässt. Doch was wir als perfekt wahrnehmen, ist subjektiv, gesellschaftlich und vom Zeitgeist geprägt. So hat sich unser Schönheitsideal seit der Antike bis ins 20. Jahrhundert immer wieder geändert.
Wir richten uns nach diesen gesellschaftlichen Prägungen, um «en vogue» zu sein und um bewundert zu werden. Das kenne ich selbst nur zu gut. Denn als Bub, der mit roten Haaren, heller Haut und doofen Sommersprossen «gesegnet» war, auch noch selbstgenähte Manchester-Latzhosen zu tragen, war definitiv alles andere als cool. Mit diesem Look konnte ich unmöglich lässig und selbstbewusst den Pausenhof betreten, um das Mädchen meiner Träume (welches ausgerechnet auch noch Christina hiess) für mich zu gewinnen. Ich entsprach nun einmal nicht dem Schönheitsideal, das die Gesellschaft definiert hatte.
Cool waren die Jungs mit den richtigen Jeans! Mit Adidas-Turnschuhen und einer Frisur wie Martin Gore. Und die Turnschuhe mussten natürlich – das war damals wahnsinnig innovativ – einen Klettverschluss haben. Ohne das nervige Schnürsenkelbinden hatte man nämlich auch viel bessere Chancen auf den besten Platz oben auf der Kletterwand, von wo aus man die Mädchen beeindrucken konnte.
Mit bordeauxroter Manchester-Latzhose, Topfschnitt und nervigen Schnürsenkeln, die ich natürlich nicht in zwei Sekunden gebunden hatte, war ich einfach nicht en vogue. Und Christina hatte sich in der Zwischenzeit an einen Jungen gekuschelt, der zwei Wochen später vielleicht schon wieder nicht mehr aktuell sein würde. Wobei natürlich auch der neue Junge eine Martin-Gore-Frisur haben würde. Weil das nun einmal schön war.
Warum erzähle ich diese Geschichte? Es geht mir dabei um die subjektive Wahrnehmung. Denn ob ich beachtet oder nicht beachtet wurde, prägte meine Meinung darüber, was schön ist. Und genau das, was ich bei anderen bewundert habe, wurde schliesslich auch zu dem, was ich als schön empfand.
Damit kommen wir zum springenden Punkt: Es existiert keine absolute Schönheit, denn Schönheit liegt in den Augen des Betrachters.
Schönheit liegt also in den Augen des Betrachters. Der Schöpfer der Rubensfigur, der Maler Peter Paul Rubens (1577–1640), betrachtete zum Beispiel äusserst üppige Frauenkörper als Schönheitsideal. Für ihn musste der weibliche Körper mit ausladenden Hüften, sichtbar gewölbtem Bauch und dickem Po versehen sein. Auch heute entsprechen diese Merkmale dank der Body-Positivity-Bewegung wieder einem normalen Frauenbild. Dazwischen aber gab es wortwörtliche Hungerjahre. Kleidergrösse Size Zero war angesagt – man hätte auch direkt in der Kinderabteilung von H&M einkaufen können.
Zum Glück haben die Kosmetikfirma Dove und andere Unternehmen erkannt, dass es durchaus sinnvoll ist, das ganze Spektrum an Schönheit für ihre Produktwerbung zu nutzen. Es gibt nicht das Schöne und wenn wir etwas als hässlich ansehen, ist dies lediglich eine Betrachtungsweise. Denn wenn uns immer wieder gesagt wird, was schön ist bzw. sein soll, dann glauben wir das irgendwann auch. Und wenn wir diesem Standard nicht entsprechen, sind wir schliesslich überzeugt, dass wir nicht fotogen sind. Und wer möchte schon Fotos von sich machen lassen, wenn er sich nicht als fotogen empfindet?
So dünn wie möglich – jahrelang war dies unser Schönheitsideal. Wer in der Modewelt oben ankommen wollte, musste sich durch eiserne Diäten und Sportprogramme kämpfen. Am besten immer gut gelaunt und mit einem bezaubernden Lächeln im Gesicht. Mode wurde androgyn, war also weder weiblich noch männlich – non-binär würden wir heute sagen.
Ich habe mal ein Model gefragt, warum die Modewelt so ist, wie sie ist. Die 182 Zentimeter grosse Frau antwortete: «Es ist einfacher, Stoff abzunehmen als dranzunähen und die Modeschöpfer stehen meistens nicht auf grosse Brüste und auslandende Hintern.»
Die Modę wird also seit Jahrzehnten von Menschen geprägt, die ein komplett anderes Schönheitsbild besitzen. Daran ist nichts verwerfliches, das fatale daran ist jedoch, dass Frauen und Männer ein Bild der Schönheit vorgehalten wird, dass einfach nicht auf alle Menschen zutrifft. Auch sind unsere Körper ganz unterschiedlich gebaut. Die Genetik eines jeden Menschen ist einzigartig und wir sollten aufhören uns ständig mit Schönheitsidealen zu vergleichen, die nicht zu uns passen und auch nicht jedem gefällt.
FaceApp ist eine App, mit der man sich jünger und «schöner» machen kann, als man es (in den eigenen Augen) ist. Angeblich. Denn das Ergebnis ist erschreckend eintönig. Die Software macht das zwar unglaublich gut, doch die Ergebnisse sehen irgendwie alle gleich aus.
Genau das ist auch das Problem mit unserem Schönheitsempfinden: Sobald etwas aussergewöhnlich ist und uns einzigartig macht, empfinden wir es als nicht schön. Zähne, die nicht ganz perfekt stehen, eine Nase, die etwas grösser ist, Lachfalten oder sonst eine Besonderheit – all das entspricht nicht dem eintönigen FaceApp-Ideal.
Die App gibt es aber nun einmal und die Menschen nutzen sie gern. Auch ich wurde in meinem Alltag als Fotograf damit konfrontiert. So wurde ich von einem Unternehmen gebucht, um Mitarbeiterporträts zu machen. Einer der Mitarbeiter war ein netter Typ, blaue Augen, dunkles Haar, Siegerlächeln. Also einer dieser Hollywood-Typen, den wohl die meisten Leute als fotogen bezeichnen würden.
Ich machte die Fotos und schickte sie am nächsten Tag zur Auswahl an die Marketingabteilung. Prompt bekam ich eine E-Mail von Mister Hollywood, in der er mir sein mit FaceApp bearbeitetes Foto schickte. Das Ergebnis: glatte Haut, markante Wangenknochen, strahlender Blick, zehn Kilo weniger. Sein Kommentar: «Hallo Chris, ich habe mein Porträt schon mal etwas bearbeitet. Ich hoffe, das ist ok für dich, ich will dem Künstler ja nicht ins Handwerk pfuschen.»
Mal abgesehen von Copyright- und Urheberrechtsverletzungen: Wer ist jetzt der Künstler? FaceApp, er oder ich? Oder anders gefragt: Ist das die Zukunft, dass man mit FaceApp sein Porträt von einem professionellen Fotografen selbst pimpt und keinen Wert mehr auf realistische Fotos legt? So erkennen irgendwann die Kunden die Mitarbeitenden von der Firmenwebsite im realen Leben nicht mehr. Das müsste uns doch zum Nachdenken anregen, oder nicht?
Dass du dich nicht als fotogen empfindest, kann ich dir leider nicht nehmen. Du musst selbst vom Gedanken des Schönheitsideals loskommen und verstehen, dass Schönheit in den Augen des Betrachters liegt. Und es ist auch in Ordnung, nicht alles an sich selbst schön zu finden. Doch indem wir uns auf das fokussieren, was uns an uns gefällt oder was wir gut können, können wir unsere Sicht auf uns selbst positiv beeinflussen.
Wenn ich dir bei einem Shooting sage, dass du tolle Haare hast, ein bezauberndes Lächeln oder eine super Ausstrahlung, dann meine ich das genau so. Denn für mich als Fotograf zählt nicht, wer oder was du sein möchtest. Für mich zählt, wer du bist und dass du mit einem Lächeln zu dir selbst sagen kannst: Ich stehe hier, so wie ich bin. Und das ist absolut in Ordnung.
Das braucht vielleicht Mut. Du musst dafür vermutlich manche Ängste oder Schamgefühle überwinden. Es ist nicht einfach, Ja zu seinem Körper zu sagen. Aber genau dieser Körper ermöglicht dir so vieles. Dank ihm kannst du die unterschiedlichsten Dinge wahrnehmen, fühlen, empfinden: ein Lächeln, das du siehst, eine Berührung, die du spürst, ein Duft, den du riechst. Das alles ist Schönheit, die du in dir trägst und für die du dankbar sein darfst.
Versuch es einfach: Schau in den Spiegel und betrachte dich mal ganz anders. Sind deine Zähne, die nicht perfekt sind, vielleicht sogar charmant? Ist deine Zahnlücke etwas ganz Besonderes? Ist deine Nase keine Hexennase, sondern eine Nase, die deine Durchsetzungskraft, deinen Willen, etwas in dieser Welt bewirken zu wollen, zeigt?
Ist dein Körper, der vielleicht etwas runder ist, genau der Körper, den du brauchst, um standhaft sein zu können und um dich weiblich zu fühlen? Wenn du dich einmal mit anderen Augen sehen kannst und erkennst, was andere an dir schön finden, dann wirst du loslassen können. Denn schlussendlich hältst nur du dich an etwas fest, was dir nicht gefällt. Da draussen gibt es viele Menschen, die dich schön finden, so wie du bist. Einzigartig und von FaceApp nicht reproduzierbar.
Mit diesem Gedanken wirst du beim nächsten Shooting ganz anders vor die Kamera treten und lächeln. Denn du musst nicht mir als Fotograf etwas beweisen. Du darfst aber dir selbst genügen und das ist echte Schönheit. Du bist fotogen!
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